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Freitag, 22. Januar 2016

Morianes Traum - eine Metapher der Reichskristallnacht - Leseprobe aus: »Die vier Reiche: Die Legaten« - Patrick R. Ullrich





   Freunde sollt ihr werden!
     Dann wird Moriane fortgewirbelt. Nur ein paar Augenblicke und ihre Sicht klärt sich wieder. Dieses Mal schwebt sie über dem Geschehen. Es ist Nacht. Unter ihr schreiende Menschen, die von einer aufgebrachten Menge durch die Straßen gehetzt werden, in das eiskalte Wasser eines Flusses hinein. Männer, Frauen und Kinder mit blaugefrorenen Lippen versuchen verzweifelt, ans Ufer zu kommen. Werden lachend zurückgedrängt, mit Steinen, Dreck und Hohn beworfen. Ein Mann hält ein kleines Mädchen an den Beinen kopfabwärts über das Geländer einer Brücke. Ihr schriller Schrei und ihre weit aufgerissenen Augen brennen sich in das träumende Bewusstsein der Magierin. Noch einmal hält der Mann die Kleine hoch, reckt die Arme und schwenkt triumphierend seine Beute. Dann löst er den Griff und das Mädchen stürzt dem kalten, schwarzen Wasser entgegen. Das Schicksal des Erfrierens, des Ertrinkens bleibt ihr erspart. Sie schlägt mit dem Kopf voran auf einen hervorragenden Söller, der die Brückenkonstruktion vor Treibgut schützen soll. Der abrupt abreissende Schrei lässt Morianes Herz kurz aussetzen. Oh Araas! Der kleine, leblose Körper treibt rasch davon und Morianes Sicht schwindet.
     Eine neue Szenerie verdichtet sich unter ihr. Flammen und wieder Schreie. Sie spürt Brandhitze. Der Feuerschein bricht sich tausendfach in Glasscherben, die ganze Abschnitte der Straße bedecken
     Eine kristallene Nacht! Wenn das Böse klug auftritt, geht es stets Hand in Hand mit der Schönheit, hatte Wenduul ihr erklärt, doch nie zuvor war ihr der Inhalt dieser Worte so deutlich geworden.
     Ein großes Gebäude steht in Flammen, die umliegenden Häuser werden mit Wasser vor Funkenschlag geschützt, nicht aber die tempelartige Anlage selbst. Unbewusst beginnt sie, zu den Flammen zu sprechen, will sie beruhigen, ihrer Macht unterwerfen. Aber sie ist nur Zuschauerin, unsichtbare, machtlose Zeugin, mehr nicht.
     Eine kleine Gruppe Menschen steht beisammen, fassungslos, fast betäubt wirkend. Johlend tragen ein paar junge Männer goldene Pokale, Platten und Kerzenleuchter davon. Plünderer, denkt Moriane angewidert.   
     Eine alte Frau tritt den Dieben schimpfend in den Weg. Sie fuchtelt mit den Armen. Man muss sie aus dem Bett und auf die Straße getrieben haben, denn sie trägt nur ein Nachthemd, das ihr der Wind an den dürren Körper drückt. Nur kurz zögern die jungen Männer und im Vorbeigehen schlägt ihr einer mit einem Kerzenständer den Schädel ein. Einen Moment lang noch steht sie aufrecht da, wie zum Trotz. Dann sackt sie im Straßengraben zusammen. Ihr Blut breitet sich grellrot auf dem weißen Stoff des Nachthemds aus, dampft unsichtbar auf dem nassen, schwarzen Pflaster.
     Das Bild wird von einem anderen abgelöst – Menschen werden zu Dutzenden aus mehrstöckigen Wohnhäusern getrieben. Während man sie auf großen, von Planen abgedeckten Wagen zusammendrängt, müssen sie zusehen, wie man ihren Besitz, ihre Möbel, den Schmuck, Bilder, Geschirr und Kleidung auf die Straße wirft. Wer aufbegehrt, hat Glück, mit dem Leben davonzukommen. Ein Mann taumelt an ihr vorüber. Er schreit nach jemandem, aber sie kann nichts verstehen. Sein Gesicht ist eine rote, breiige Masse, die Zähne ausgeschlagen. Weil er mit seinen zugeschwollenen, blutverklebten Augen nichts sieht, taumelt er in die falsche Richtung, verlässt die Reihe hinter dem Planwagen. Nur ein paar Schritte weit. Ein Braungekleideter tritt zu ihm, der erhobene Arm mit dem Knüppel saust herab und es klingt, als würde ein Brocken Butter zu Boden fallen.
Und durch all das hindurch sieht Moriane noch etwas:
     All die Misshandelten, Geschundenen und Gequälten scheint nichts zu einen. Es sind alte Männer, junge Frauen, Kinder, Arme und Wohlhabende. Nichts verbindet sie, nichts unterscheidet sie von jenen, die sie mit Hass verfolgen.
     Du wirst es nicht aufhalten!
hallt es vielstimmig in ihrem Kopf. Grausame Stimmen, heulend und vibrierend vor Wut. Jäh packt sie Angst und schlafend hält sie die Luft an. Kälte sticht mit tausend Nadeln in ihre Haut, es fröstelt sie unter der warmen Decke. Dann erfolgt der Zugriff. Mit unerhörter Macht und völliger Rücksichtslosigkeit drängt sich etwas in ihren Geist, wischt ihre mentalen Barrieren zur Seite, zertrümmert sie, wie ein wilder Sturm Holzbauten zerschlägt – und ihr Innerstes ist entblößt, liegt nackt und ungeschützt da, den Kräften, die sie umgeben wie schwarzer Rauch, hilflos ausgeliefert. Wer oder was vermag solches zu tun? Wenduul selbst lehrte sie das Errichten der mentalen Wehre und nun ist es, als sei sie nie unterrichtet worden.    Mit äußerster Anstrengung verschließt sie sich dem Ansturm, igelt sich ein, versucht dem Traum zu entkommen und gewinnt nach endlos empfundener Spanne die Oberhand.




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